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20. Dezember
In der Patientenrolle

Heute habe ich die Rolle getauscht und war Patient. In der Nacht hat mir meine Zehe klar signalisiert, dass ich jetzt einen Chirurgen brauche und nicht mehr selber rumdoktern kann. Also rufe ich im Krankenhaus an und darf um 12 Uhr antreten. Irena geht mit, Sr. Michaela fährt uns hin. Ein bisschen Muffel habe ich wohl – besonders davor, dass ich schön „Brav“ bleibe und eben meine Patientenrolle einnehme. Das geht schon beim Einlass schief. Ein grosser, dicker Wächter versperrt die Tür und will alles Mögliche, nur uns nicht einlassen. Ich mache ihm klar, dass ich durch diese Türe gehen werde, ohne eine Leke zu bezahlen. Der Weg war frei – Irena ist etwas blass um die Nase. Die grosse bombensichere Türe zu den Behandlungsräumen ist wie verblombt, der dicke Wächter muss den Knopf zum „AUF“ drücken. Das tut er denn auch. Im Korridor vor der Orthopädie dann die nächste Rollen-kollision: Da warten, mit gesenkten Köpfen, die Lahmen und Krüppel mit alten Holzkrücken wie an der Wand aufgereiht, eingequetscht zwischen käsebleichen Herzpatienten, die gegenüber auf ihren Herzdoktor warten. Irgendwie warte ich, dass jemand zusammensackt. Und mir rutscht automatisch raus: „Aber die brauchen doch Stühle – es müssen Stühle her!“ Irena zerrt mich an die Tür unseres Orthopäden. Sie hätte mir am liebsten den Mund zuge-halten. Ich sehe dann Gjini auf seinen Orthopäden warten: mit seinem rausgeschossenen Auge und seinem lahmen Bein, mit noch einer Kugel drin, hing er schräg in seinen Holz-krücken und grinst mich fragend an. Seine Frau stützt ihn und kann nicht glauben, dass ich mich hier einreihe und nicht ins Ausland gehe. Ich beruhige sie und sage, es sei ja nur was Kleines. Dann werden wir in die Notaufnahme für die kleine Zehenoperation geschickt. Dort gibt es ein paar Sitze. Der Sekretär will uns nicht annehmen, weil mein Orthopäde keinen Bereitschaftsdienst hat. Ich beharre darauf, dass mein Orthopäde mich gleich operieren wird. Nach hin und her und meinem Beharren, nimmt der Sekretär dann meine Personalien auf. Weit weg sind wir hier von der vielgepriesenen und überall funktionierenden Digitalisierung. Umständlich überträgt er die Daten von meinem Pass in den Aufnahmebogen.
Neben mir macht gleichzeitig eine junge Ärztin die Anamnese einer Notfallpatientin – es gibt keinen Persönlichkeitsschutz oder so. Jetzt weiss ich die Krankengeschichte dieser Patientin. Dann ist da die Frage nach meiner Diagnose. Der anwesende Krankenpfleger ruft den Orthopäden an. Dann wissen sie nicht, ob es der rechte Fuss oder der linke Fuss ist. Ich mische mich ein und sage auf Albanisch: „djathtas“ – rechts. Der Sekretär fragt: „Verstehst Du denn albanisch?“ Ich nicke und der Pfleger sagt dann zum Sekretär mit betont lauter Stimme: „Schreib: Digit dextra und Phlegmona“. Nun bekomme ich das Dokument und muss den Vornamen von meiner Mutter und meinem Vater reinschreiben, bevor ich dann unterschreiben darf. Dann tauchen ein paar Jugendliche mit einem Kumpel im Rollstuhl auf, ein Polizist kommt auch noch nach. Er fragt die Schüler aus, wie es denn zu dem Unfall gekommen ist. Die Jungs erzählen dem hilflosen älteren Polizisten ein paar Stories und grinsen dabei. Sie nehmen ihn schlichtweg auf den Arm. Die Schule, wo es passierte, ist die Schule von Abraham. Jetzt ist bei mir wieder Rollenwechsel. Ich frage den Polizisten, ob er denn schon die Schulleitung informiert habe und die Eltern? Er ist etwas erstaunt und findet das aber eine gute Idee. Dann werde ich in den Vorraum des OP‘s gebracht.

Dieser Raum gleicht eher einer Rumpelkammer. Ich werde in ein paar Plastiksocken gesteckt, lege meinen Schleier ab und werde dann im OP auf die Pritsche geschnallt. Der arme Pfleger schwitzt schwer, als er bei mir keine Vene für den Zugang findet. Er fragt mich ständig, warum ich denn so schwache Venen habe und klopft so auf diesen rum, dass ich wohl schon Hämatome davon kriege. Er bohrt fünfmal eine Vene an – ohne Erfolg. Dann noch ein paar weitere am Handgelenk. Es klappt nicht. Nun kommt der dicke Chefpfleger und ich denke automatisch an einen Henker. Der packt, ohne Gruss, meinen Arm und dreht ihn so rum, dass ich den Verdacht habe, er möchte dem Orthopäden mit einem gebrochenen Oberarm noch ein zusätzliches Einkommen verschaffen. Aber er bohrt sich emotionslos erfolgreich in die Vene und hebt dabei meinen Arm nochmal wie eine Trophäe so hoch, dass er mich um ein Haar von der Pritsche gezogen hätte. Dann meint er: „Ti je shume e forte!“ Du bist aber sehr stark. Und ich sagte: „Und Du?“ Jetzt legt er sich noch mit dem dazugekommenen Orthopäden an. Er schmeisst ihm vor, dass er das Protokoll des Operationssaales gebrochen habe, wegen fehlender OP-Haube. Sie streiten. Ich beisse mich auf die Zähne, um nicht zu sagen, dass er jene OP-Haube bei mir auch vergessen habe. Aber ich bitte dann höflich - nachdem es lauter und lauter wurde – sie mögen ihre Streitereien doch nach dem Eingriff weiterführen. Das schlucken sie. Dann wird eine Eisenstange vor meinem Gesicht befestigt und ein grüner Pflegerkittel drübergehängt. Ich hoffe, dass dieser frisch gewaschen ist. Die Sicht zum OP-Feld ist somit genommen und es ist auch gut so. Und dann wird gearbeitet.  Und ich habe das Ganze erfolgreich überstanden und werde wohl ein paar Stühle beantragen.