Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde und Bekannte in der Heimat
Grüss Gott Euch allen aus dem Klösterle in Dobrac. Der Frühling ist da, es wird Zeit, dass ich mich wieder mal melde. Wir berichten gerne und teilen mit Euch ein wenig Erfahrungen. Gleich zu Beginn danke ich für alles: für das Interesse an dem, was wir hier erleben, für die Solidarität, die Ihr den Armen und Elenden vermittelt, für jede Minute Zeit, für jede materielle und finanzielle Hilfe und natürlich für Euer Gebet und jeden guten Gedanken. Es ist ein Segen, dass wir mit Euch ein Netzwerk geworden sind – ein starkes Netz, das auffängt und nicht auseinanderbricht, wenn das Gewicht schwerer wird. Und ein Netz, das heilsam ist.
Bald schon wieder dürfen wir im Hymnus des Stundengebetes für die Fastenzeit in einem kleinen Satz lesen: „Die Erde zu heilen schuf Gott diese Tage“. Dieser Satz ist für mich über lange Zeit bis heute immer wieder die Quelle meiner Meditation, meiner Reflexion und auch meiner praktischen Arbeit geworden. „Die Erde zu heilen schuf GOTT diese Tage – und in diesen Tag mich – uns alle!“ Da ist viel Raum, viel Bewegung, viel Kreativität, die uns das ermöglicht – besonders in Zeiten, wo das Unheil, das Unheile oft zu überwiegen scheint.
Ja und da sind viele Wunden hier, viele Verwundete an Leib, Geist und Seele und alles ruft nach Heilung, nach Lebendigkeit und nach heilsamen Begegnungen. Und die gibt es! Wir könnten jeden Tag ein Buch schreiben, so gefüllt sind die Stunden, so intensiv die Minuten.
Intensiv war der 18. Geburtstag von Abraham am 19. Februar – gerade mal eine Woche her und schon wieder irgendwie so lange. Extra ist dafür seine grosse Freundin Mutter Andrea mit Sr. Josefa und Barbara angereist. Ja, die beiden verstehen sich auf ganz besondere Weise: Alt und Jung, zwei Sprachen, hellwach der Eine, die andere im Alter fortgeschritten und die Orientierung nicht mehr so ganz, aber sie spielen Karten, sie zocken, sie gucken Fussball und unterhalten sich blendend. Der Jüngere kümmert sich, gibt Orientierung und sorgt sich um das Wohlbefinden in rührender Weise. Es war einfach schön. Und dann sind wir noch für zwei Stunden ans Meer – im Wissen, dass es vielleicht auch das letzte Mal ist mit Mutter Andrea. Ein Loslassen, das dazugehört - und heilsam ist. Und wir haben auch wieder losgelassen und unsere Besucher sind wieder daheim.
Wir waren vorher schon am Meer. Ich hatte mit den Pflegeschülern für die häusliche Pflege ein Sterbebegleitungsseminar vorbereitet. Für 2 ½ Tage suchten wir einen ruhigen Ort, um dieses Thema gut und tief angehen zu können. Schwester Michaela hat im Klösterle die Stellung gehalten. Wir bekamen ein Hotel am Meer sozusagen fast geschenkt. Diese Tage waren gut und heilsam – einige der Pflegenden hatten traumatische Erfahrungen mit dem Tod über die sie nie vorher sprechen konnten. Der neue Bischof von Shkoder hat uns am zweiten Abend besucht, mit uns eine Hl. Messe gefeiert, gegessen und über das Projekt der häuslichen Pflege den ersten Eindruck gewonnen. Wir sind mit der Ausbildung fast am Ende, die Gruppe möchte jedoch weiterhin regelmässige Treffen. Schwester Gjyste sagte: „Wir müssen noch viel mehr lernen, du kriegst uns nicht mehr los.“
Die Projekteilnehmer sind draussen bei den Langzeitkranken im Einsatz. Sie sind „da draussen“ mit ausschliesslich schweren Schicksalen konfrontiert, die Kranken sind schwerst erkrankt, ohne sonstige Versorgung, die ärztliche Versorgung existiert oft gar nicht mehr. Schwerst an Krebs erkrankte Patienten werden einfach als „austherapiert“ heimgeschickt, Schlaganfallpatienten sowieso. Wenn noch Angehörige da sind, werden diese völlig allein gelassen, die wirtschaftliche Situation ist in den allermeisten Fällen katastrophal. So wurden wir zu einem Patienten gerufen, der ein Offizier war und im Dienst einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Er liegt daheim, ist desorientiert, gelähmt und wegen Allergie der Inkontinenzeinlagen völlig wund. Seine Frau ist Lehrerin und muss vormittags in die Schule, sonst verliert sie ihren Job. Sie haben alles für die Behandlung ausgegeben – dann wurde er heimgeschickt. Zwischendurch wird er aggressiv, weil er die Situation nicht einordnen kann.
Ich bin mit Tone dort und mache den Erstbesuch. Es ist zu weit, um jeden Tag dorthin zu kommen. Die Frau konnte dann eine Familienmutter aus dem Dorf für die Vormittagsaufsicht finden. Sie muss aber bezahlt werden und gibt ihm nur zum Trinken. Auf meinen Vorschlag, dass wir dieser Frau die Pflege, das Drehen, Positionieren usw. beibringen können, schüttelt die Frau den Kopf: „Nein, das geht nicht!“ Auch Tone, unsere Mitarbeiterin in der Pflege und eine aufgeschlossene, fast schon emanzipierte Frau, schüttelt den Kopf: „Geht nicht, Schwester Christina!“ Ich kapiere mit meinem „westlichen Denken“ immer noch nicht. Beide schweigen: „Geht nicht!“ Ich verwehre mir im Moment meine „Warum-Frage“, weil mich die beiden verständnislos angucken. Dann „dämmert“ mir was. Ich wiederhole und formuliere:
„Es geht nicht, weil eine verheiratete Frau aus dem Dorf in keinem Fall einen verheirateten Mann anfassen kann.“ Sie nicken und meinen: „Na endlich!“ - und haben ein bisschen Mitleid mit mir, dass ich so etwas so lange nicht kapiere. „ES GEHT NICHT!“ Ich bin am dazu lernen und wir müssen Alternativen finden. Denn bis dieses TABU gebrochen ist, sind wir nicht mehr auf dieser Welt. Dann frage ich noch, ob der Patient eine Rente bekommt oder sie Sozialhilfe. Die Frau sagt folgendes: Die Rente wurde beantragt, aber abgelehnt mit folgender Begründung: Da ihr Mann nicht bei der Kommission erscheinen konnte, musste sie eine Videoaufnahme von ihm im Bett machen. Während der Aufnahme hat ihr Mann das linke, nicht von der Halbseitenlähmung betroffene Bein ungezielt bewegt. Die Kommission hat sie dann der Lüge bezichtigt und sagt: „Er kann sich bewegen, er ist gar nicht gelähmt!“ Solche und ähnliche Antworten sind bei dieser Kommission keine Einzelfälle. Diese Patienten oder die Angehörigen fühlen sich dann nach einer solchen Ablehnung oft auch noch schuldig und die Entwürdigung ist dann oft schlimmer als die körperliche Problematik. Diesen Patienten ein wenig die Würde zurückzugeben, sie dabei zu stärken, für ihr Recht auf staatliche Unterstützung einzustehen, sich nicht schuldig zu fühlen, dies ist ein Teil unserer alltäglichen Arbeit geworden. Zwischendurch unterstützt sie auch einer unserer Mitarbeiter bei der Bürokratie etc. In einer so schwierigen Situation Unrecht, gekoppelt mit Ironie und Erniedrigung, zu erfahren, schlägt bei vielen Patienten tiefe seelische Wunden. Heilung braucht Zeit und auch das Recht gegen Unrecht.
Nach wie vor fahren wir nach Korce. Melisa geht es etwas besser. Die Wunde im Bauch-bereich ist geschlossen, die Beine brauchen noch Zeit, aber die Wundheilung geht voran. Und vor allem geht es ihr psychisch besser. Die Panikattacken sind weniger geworden und sie kann sozusagen den Rückfall ins Trauma gut abfangen. Wir haben ein paar Sätze oder „Einsagen“ geübt, damit sie sich vor dem Kontrollverlust in die Realität zurückholen kann. Das macht sie sehr gut. Nun hat sie zum ersten Mal die Wunde angeschaut – bislang hat sie dies absolut verweigert, die Augen fest geschlossen beim Verbinden. Als dann die Bauchwunde ge-schlossen war, nahm ich ihre Hand und führte einen Finger von ihr zur abgeheilten Wunde. Sie tastete, hielt aber die Augen geschlossen. Und nun hat sie ganz von selbst geguckt. Die innere Heilung ist wohl in Gang gesetzt, sie lehnt ihre grossen Wunden nicht mehr grund-sätzlich ab. Gestern nun sagte sie, dass sie sich ein Tatoo für ihren verbrannten Arm wünscht. Ich finde das eine gute Idee, nur muss es von einem guten Spezialisten gemacht werden. Sie sucht nun ein Motiv. Und dann hat sie mich nachträglich zu meinem Geburtstag überrascht. Sie stand mit einer Blume in der Zimmertüre, um mir zu gratulieren. Und sie hat sich schön gemacht: Lippenstift und Fingernägel lackiert! Fast jeden Tag schicke ich ihr eine Message mit einem Foto vom Garten oder einem Spruch. Das nimmt sie inzwischen auf und es belebt sie. Sie zeigt wieder Interesse am Umfeld. Langsam, ganz langsam kehrt sie zurück ins Leben. Das Pflänzchen ist noch zart, aber die Farben des Frühlings ja auch. Und wir achten darauf, dass wir mit der „Einforderung von Leben“ für sie nicht zu schnell sind und sie sich selbst nach ihrem Tempo aus dem Tunnel tasten und ihren so ganz neuen Lebensrhythmus auch finden kann. Sie lernt eben gerade, mit den schweren Wunden umzugehen, die Vernarbung hat noch gar nicht begonnen. Aber sie macht das gut.
Und da ist noch ihre kleine Schwester mit 14 Jahren. Jona ist ein tolles Mädchen. Sie schwänzt manchmal die Schule, wenn wir kommen und sagt: „Ich lerne viel mehr, wenn Ihr da seid“. Die Mutter toleriert es inzwischen, da Jona sehr gut in der Schule ist. Sie möchte viel wissen und bat nun um eine Bibel und um ein Kreuz. Sie lernt gerade das Beten, sagte die Mutter. Ich habe kaum so ein reifes 14-jähriges Mädchen erlebt. Und ist fröhlich und selbstbewusst und möchte im Sommer zu uns als Praktikantin kommen.
Hier ist die Grippewelle sehr massiv eingebrochen. Uns im Kloster erwischt es so nach-einander und am letzten Samstag fuhr deshalb Schwester Michaela mit Tone nach Korce zu Melisa. Ich konnte so die Grippe etwas kurieren. Um 10:30 Uhr klopfte jemand nervös am Klostertor. Eine Mitarbeiterin meldete ein verbranntes Kind. Der letzte Patient hatte eben die Ambulanz verlassen und so konnten wir gleich „freischalten“. Der kleine Zweijährige geht mir noch enorm nach. Er war schwerst mit kochender Milch verbrannt – mindestens 50 Prozent der gesamten Hautoberfläche. Die Haut hing in Fetzen herunter und sie hatten ihn in eine Wolldecke gewickelt. Eine Stunde sind sie gefahren. Ich rief Schwester Josefa, die noch zu Besuch war, um mir zu helfen. Wir versorgten den Kleinen notfallmässig, dann war die Ambulanz da für Tirana. Wir gaben Verbandszeug und Flammazine mit, weil es dort nur Jodtinktur gibt. Der Kleine ging mir an die Nieren. Ich darf nicht drandenken, wie man ihn in der Schweiz oder Deutschland versorgt hätte. Aber er lebt noch und der Arzt aus der Klinik bat nochmal um Salbe, Kompressen und um Albumin.
Und wieder einmal mehr denke ich drüber nach, wie wir die Eltern, zum Schutz vor Brand-wunden ihrer Kinder, sensibilisieren können. Es gibt Unmengen von Brandunfällen, die zu vermeiden wären.
Und weiter kursiert die Grippe, aber auch diese Welle wird vergehen, eine andere kommen. Trotzdem ist es Frühling geworden und Veilchen, Hyazinthen, Osterglocken und unser Zwetschgenbaum blühen. Wenn der Frühling die Erde für Ostern bereitet, dann schafft Gott diese Tage, um die Erde und ihre Geschöpfe zu heilen. So wünschen wir Euch für die Fastenzeit die heilende Nähe unseres Gottes und danken von Herzen für alle heilbringenden Zeichen, die Ihr uns so oft gebt.
Eure Schwestern Christina und Michaela