Durch den Tunnel
Elisa steht vor der Türe. Sie wirkt etwas hilflos, durcheinander. Ich sehe, dass sie humpelt.
Bevor sie sagt, was sie möchte, entschuldigt sie sich und sagt, dass sie nicht stören möchte. Das wiederholt sie solange, bis ich sie sachte am Arm nehme und ihr einen Stuhl anbiete. Ja, sie humpelt schwer und verzieht ihr Gesicht schmerzlich, als sie die paar Meter zum Stuhl geht. Sie atmet schnell und nicht frei. Sie macht nun noch mehr einen verstörten Eindruck. Ich bitte sie, ruhig durchzuatmen und frage, ob sie etwas Wasser möchte. Das verneint sie. Dann frage ich sie, warum sie hierhergekommen ist. Sie bückt sich, stülpt die Hose hoch und eine unversorgte, hoch infizierte tiefe Wunde am Unterschenkel klafft mir entgegen. Ich nehme sie sofort in die Ambulanz, lagere sie und frage, was denn passiert sei. Dann erzählt sie völlig teilnahmslos, kühl und sachlich, dass sie nach einer Operation so aufgewacht sei. Und sie sagt, dass sie schnell wieder wegmuss, da sie ein Baby zu Hause habe. Ich merke, dass „da was anständig klemmt“ und konzentriere mich auf die Wunde. Sie braucht Zeit. Ich versorge die Wunde und bestelle sie am nächsten Tag und wünsche ihr noch alles Gute für ihr Baby. Da leuchtet das Gesicht kurz auf. Dann der nächste Tag: Sie ist überpünktlich und ich frage sie, wie es ihr geht. Sie sagt, dass sie Schmerzen hat. Dann frage ich sie nach dem Baby. Sie hat plötzlich eine verschämte Träne und dreht sich schnell um. „Möchtest Du erzählen?“ – frage ich. Dann kommt es wie in einem Schwall. Sie sollte ihr erstes Kind gebären. Man hat ihr gesagt, dass es ein Junge sei, aber auch, dass er sehr schwer wäre. Die Zeit der Geburt war da, dann eine Woche, dann zwei, dann drei: überfällig! Die Ärzte sagten, es brauche halt mehr Zeit oder es sei ein Rechenfehler. Aber sie spürte, dass was nicht so ist, wie es sein sollte. Das Fruchtwasser ging ab. Wieder sagten die Ärzte, dass sie warten müsse, man mache keinen Kaiserschnitt, sie wäre schliesslich gesund. Die Wehen setzten nicht ein. Dann kamen Wehen, sie spürte aber, dass es nicht klappt. Als das Kind schon fast im Geburtskanal war, wurden alle nervös und sie wurde schnell in den OP gekarrt. Jemand sagte, dass sie jetzt keine Wehen haben dürfe. Dann wisse sie nichts mehr. Knapp haben das Kind und sie überlebt. Der Kleine hat wohl noch Fruchtwasser in die Lunge gekriegt und war dann zwei Wochen noch im Krankenhaus. Er hat knapp überlebt. Sie wurde am Unterschenkel mit der Elektrode falsch geerdet und während der gesamten OP wurde ihr sozusagen das „Mal“ eingebrannt. Die Brandwunde ist tief und sie haben dann gesagt, sie müsse froh sein, dass sie lebe. Ausserdem musste sie noch einen zusätzlichen Aufpreis für die Schwierigkeiten zahlen, die sie gemacht hat. 400 Euro Schulden sind ihr und ihrem Mann geblieben und die Brand-wunde, die für immer eine Narbe hinterlassen wird.
Jetzt nehme ich sie in den Arm und sie kann weinen. Sie sagt, sie haben 7 Jahre auf ein Kind gewartet und sie spricht von ihrer Angst, den Kleinen zu verlieren. Sie weint wieder. Zum ersten Mal hat sie über das Erlebte gesprochen. Der Tunnel hat eine lichtvolle Öffnung. Sie wird durch das Trauma gehen – die Wunde wird heilen und ich sage ihr, dass die Narbe sie erinnern wird, wie stark sie war. Da nickt sie. Und sie geht anders als beim ersten Mal. Ihre Seele wird auch heilen dürfen.