Der Sprung über den eigenen Schatten
Ihr Name ist Tone. Schon beim grossen Hochwasser 2010 ist sie mir aufgefallen. Sie und ihre Familie waren die Ersten, die überschwemmt wurden. Bevor das Wasser ins Haus kam, ist sie mit dem Radl zur Fabrik – durch das Wasser. Solange bis sie raus mussten. Und ihre Kinder waren in unserem Kindergarten. Immer war sie bei den Treffen – immer war sie ruhig und zurückhaltend. Aber sie hat fast nie gelacht. Seit einem Jahr arbeitet sie nun mit uns – wir haben sie gefragt, ob sie in der häuslichen Pflege, die wir gerade aufbauen, mitarbeiten will. In diesem Moment strahlte sie kurz, dann wurde sie ernst und sagte: „Ich glaube nicht, dass ich geeignet bin, ich habe nur 9 Klassen Schule“. Wir sagten ihr, dass es genügt, wenn sie lesen und schreiben kann, motiviert ist und das Herz am rechten Fleck habe. Sie nickte und dann war wieder das Strahlen. Und sie sagte leise: „So eine Arbeit habe ich mir immer gewünscht“. Und seitdem ist sie hier und sie ist ein Segen, ein wirklicher Segen. Sie lernt schnell, kann vernetzt denken, beherzt handeln und hat die Akzeptanz der Leute hier. Sie geht inzwischen selbst zu den Patienten raus, rapportiert, fragt gezielt und sie ist wissbegierig und zuverlässig. Sie hat Humor. Sie hat ihr verschüttetes Selbstvertrauen ausgegraben. Bei ihr kann ich nur staunend sagen: „Was wissen die, die nicht gelitten haben“. Sie hat gelitten und bliebt unverbittert. Und nun stand sie vor einer grossen Herausforderung. Da stand meine Romafreundin Dushe da. Ein Mann ist schwer krank aus dem Krankenhaus entlassen worden und aus einer Drainage im Körper laufe der Eiter. Alles wäre voll und er schreie vor Schmerzen. Ich habe eine schlimme Zehe und kann in keinen Schuh und es ist mir unmöglich, damit in die Romasiedlung zu gehen. Tone weiss das. Sie schaut mich an und schluckt. Ich weiss, was sie denkt, aber ich sage nichts. Ich kann mir in diesen Momenten vorstellen, welch inneren Kampf sie gerade führt: Ein Albaner, noch dazu eine Frau allein zu den Roma! Und auch noch zu einem Mann. Das kann ihr ihren Ruf als anständige Frau kosten. Das ist nicht möglich. Da sind die Vorurteile zu gross, das Tabu kann nicht gebrochen werden, darf es nicht! Ich gehe mal kurz zu Schwester Michaela ins Büro. Ich weiss, dass ich sie jetzt nicht mit meiner Anwesenheit zu irgendwas verpflichten darf. Ehe ich wieder in der Ambulanz bin, kommt Tone auf mich zu und sagt: „Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich zu dem Roma gehen würde?“. Meine Umarmung ist stumm, wir beide wissen in diesem Moment um einen inneren Kampf, der eben stattgefunden und zu einer grossen Freiheit geführt hat. Dann geht Tone mit Dushe zum Patienten. Und ich bete und danke.