Weit darf nicht zu weit sein
Ich muss nach Korca zu Melisa. Der Vater war schon dreimal hier, um Verbandsmaterial zu holen, da die Wunden einfach nicht heilen wollen. Melisa wurde im Ende August von ihrem Mann angezündet. Wir beschliessen, dass Sr. Michaela im Kloster bleibt und Tone und ich mit einem Chauffeur fahren. Meine entzündete Grosszehe packe ich so ein, dass über die Sandalen notfalls eine Plastiktüte einen Toilettengang unterwegs erlaubt. Es regnet stellen-weise heftig. Wir fahren also um 5.30 Uhr los. Nach fünf Stunden sind wir vor Ort und werden von der ganzen Familie mit zwei Blumensträussen begrüsst. Es ist mir arg, da ich weiss, dass sie nicht mal mehr genug zum Essen haben. Schwester Michaela hat gesorgt und ein grosses Paket mit Lebensmitteln eingepackt. Ich war in Sorge, da Melisa das letzte Mal noch schwer depressiv war und sozusagen voll im Trauma hing. Aber sie strahlt uns an und meint, es ginge ihr sehr gut. Ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass es ihr in jedem Fall psychisch besser geht. Die Familie betont ständig, dass sie ohne uns alle nicht überlebt hätten. Ich freue mich sehr, dass es Melisa besser geht. Dann machen wir den Verbandswechsel und da werde ich ernüchtert. Die Wunden riechen süsslich, alles ist versifft. Ich kann ihr mein Erschrecken nicht zeigen, weiss aber, dass ich es irgendwie vermitteln muss, dass das gar nicht lustig ist. Gespannt erwarten Melisa und ihre Mutter meinen Kommentar. Ich vermittle vorsichtig, dass die Wunden immer noch sehr infiziert sind und viel Sorgfalt brauchen. Dann erzählen sie uns, dass die Krankenschwestern halt nur noch alle vier Tage kommen und dann die Verbände runter reissen und sagen, dass sie halt Geduld brauchen. Derweil läuft mir die eitrig grün-gelbe Schlenze über die Finger. Die Oberschenkel sind bis ins Muskelgewebe immer noch schwer betroffen, der Bauch kaum besser. Ich überlege und stelle dann die Wundversorgung völlig um.
Als wir die Brandwunden versorgt haben, sagt die Mutter, dass Melisa noch „was am Gesäss habe“. Ich stutze und finde einen Dekubitus 2.Grades. Die Krankenschwestern haben gesagt, das wäre schon nicht so schlimm. Mir steigt der Blutdruck. Und sie sind so weit weg – es geht so irgendwie nicht weiter…Melisa kommt nicht mit zu uns wegen der zwei schulpflichtigen Kinder. Ich erkläre der Mutter, dass sie in Zukunft die Verbände wechseln soll. Sie ist bereit.
Dann kommt ein Anruf über die Mutter für Melisa: eine Psychologin aus Tirana meldet sich und sagt, sie möchte mit Melisa nun Online eine Traumatherapie beginnen, sie komme von einer Hilfsorganisation und sei auf Traumata spezialisiert. Mir lupft es fast den Schleier…Die Mutter erlebt das als blanke Ironie und sagt das Gott sei Dank der Dame am Telefon auch.
Und ich weiss, als wir gehen, dass wir eine Lösung finden müssen, um Melisa besser ver-sorgen zu können. So schafft sie es nicht. Korca ist weit, aber Korca darf nicht zu weit sein.