Jahres-Rundbrief
Albanien-Rundbrief
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Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat,
ja, wir dürfen gerade Granatäpfel essen, den roten vitaminreichen Saft trinken und uns an der rot-orangen Farbe, die auf den Sträuchern leuchtet, freuen. Und das in der Woche, die uns wohl alle den blossen Schrecken in die Glieder gejagt hat. Ich habe mich in dieser Woche einige Male gefragt, ob ich mich daran noch freuen darf. Ich habe mich auch gefragt, wie ich einen Rundbrief an Euch schreiben kann angesichts dessen, was mich und wohl auch Euch seit dem 7. Oktober in Gefühl und Gedanken besetzt, belastet und vielleicht auch Angst einjagen möchte. Und ich habe mich entschieden, zu schreiben - weil wir den Granatapfel gerade ernten dürfen. In Israel habe ich vor 38 Jahren überhaupt zum ersten Mal einen Granatapfel gesehen. Ein Symbol der Liebe ist er.
Ich habe mich entschieden, Euch jetzt zu schreiben, weil wir allen Grund haben, in all dem Weltchaos, dankbar zu sein. Viele von Euch haben uns in den letzten Wochen und Monaten sehr unterstützt. Wir bekamen Besuch, wir bekamen Hilfsgüter von kleinen und grossen Transporten, wir bekamen das OK zur Unterstützung für die erste basale häusliche Pflege. Wir erlebten, wie so viele von Euch viel Zeit, Kraft und Material gegeben haben, damit wir hier weitermachen können. DANKE.
Die grossen Kriegskrisen – jetzt wohl eine mehr – haben die humanitäre Lage auch hier verschärft. Viele, viele Touristen kamen im Sommer, derweil entleert sich das Land; wer irgendwie kann, haut noch ab, bevor…ja bevor…das Gespenst das da lauert und antreibt, das können wir nicht identifizieren. Es ist in jedem Fall so, dass die angespannte Lage im Kosovo dem albanischen Volk hier nicht unbedingt Sicherheit vermittelt. Und hier fehlen überall Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Handwerker. Immer wieder ist eine Familie weniger. Und die Menschen, die hier bleiben, suchen uns vermehrt auf: sie wissen nicht mehr weiter, sie sind krank, sie können Schulbücher nicht bezahlen, sie brauchen Medikamente, die Langzeitkranken verfaulen in den Betten. Es ist markant, wie die Weltsituation sich hier kumuliert als kollektive Hoffnungslosigkeit. Ja, sie hauen noch ab ins Ausland – meist illegal, aber es macht sich auch bemerkbar, dass die Sicherheit „draussen“ auch bröckelig geworden ist. Der neue Konflikt im Kosovo trägt zur Verunsicherung bei; die Angst vor einer erneuten Eskalation wie 1999 wächst beständig. Wir sind so oft einzige Anlaufstelle, vielleicht sogar ein Anker. Und längst sind wir gewöhnt, dass unser geplanter Alltag umgeschmissen wird und schnell „andere Prioritäten“ gesetzt werden müssen. Dass uns gegen 9 Uhr der Strom bis zum späteren Nachmittag abgeschaltet wird, das sind wir die letzten Wochen fast gewöhnt gewesen. Wir sind froh, dass es noch nicht kalt war. Aber es „brennt“ derzeit an vielen Ecken und Enden.
Da ist Xhamili. Er ist uralt – wie alt genau, das wissen wir gar nicht; er selbst auch nicht. Er lebt im Livade als Eigenbrödler mit Hund und Katz, ein paar Hennen, Schlangen und Ratten. Sein Sohn wurde vor Jahren wegen Blutrache sehr jung erschossen. Er sammelt Müll und haust in einer elenden Unterkunft. Selbst beim Hochwasser ist Xhamili nicht raus, sondern hat tagelang auf seinem Dach kampiert. Einzig zu uns hat er Vertrauen und wir haben immer wieder nach ihm geschaut, ihm „was vorbeigebracht“, eine Wunde verbunden, ein wenig geratscht…Seine wachen klaren Augen haben mich immer beeindruckt. Vor kurzem sah ich im Livade, unserem Wohngebiet, schwarzen dicken Rauch aufsteigen, gleichzeitig hörten wir die Feuerwehr. Ich wollte Schwester Michaela rufen, aber die stand schon in der Türe und sagte: „Irena hat angerufen, es brennt beim Xhamili!“ Mir war klar, dass ich da raus muss. Daniela, die zwei Wochen mit uns war, ging mit mir und wir fuhren raus. Die Nachbarn standen bereits aufgeregt herum und hatten Sorge, dass weiter Granaten und explosive Sachen hochgehen könnten. Es muss ziemlich gekracht haben. Jemand sagte, Xhamili habe noch einige Panzerfäuste vom Bürgerkrieg 1997 gelagert. Wir gingen von einer anderen Seite auf das Grundstück zu. Die Feuerwehr liess uns nahekommen und ich erklärte kurz, wer ich bin. Ein Feuerwehrmann kam und zeigte zum schon abgebrannten Haus. Da sass Xhamili und ging nicht weg. Ich näherte mich und rief ihn. Er reagierte gar nicht. Ich ging näher zu ihm und rief wieder. Er hob den Kopf, aber sein Blick war in die Weite gerichtet und er guckte durch mich durch und wirkte total verstört. So näherte ich mich voll und sagte: „Xhamili, ich bin’s Christina“.   Da hob er den Kopf aufmerksam und bewegte sich. Ich sprach ruhig mit ihm und bat ihn, mit mir zu kommen und weg vom Brand zu gehen. Er liess sich wegführen, aber er war verstört und konnte nicht sprechen. Er war einverstanden, erstmal mit uns ins Kloster zu kommen. Hier fühlte er sich ziemlich schnell wohl. Die erste Hürde, die wir mit Xhamili aber überwinden mussten, war die Dusche. Er war so voller Dreck und eine Brühe vom Feuerlöschen lief an seinen Beinen runter, dass eine Dusche unumgänglich war. Er hatte genug Vertrauen und nach kurzer Zeit fand er das warme Wasser mit dem Shampoon einfach nur schön. Er meinte, er habe noch nie im Leben geduscht. Dann bekam er Appetit und wurde müde. Schwester Michaela hatte das Bett im Gästezimmer gerichtet und Xhamili fühlte sich wie ein König. Er schlief ein paar Stunden. Als ihn ein Verwandter abholte, war er tief gerührt. Er küsste den Abri und Antonio zum Abschied und sagte zu uns: „Ich wurde als Mensch behandelt und war im Himmel. Jetzt kann ich sterben!“ Niemand hatte ihn bislang von seiner wirklich menschenunwürdigen Behausung weggebracht. Selbst im schlimmen Hochwasser ging Xhamili nicht. Er lebte damals tagelang auf seinem Dach. Nun konnte er loslassen. Er lebt bei einem Cousin auf dem Land.

Seit kurzem betreuen wir eine Familie ein paar Häuser weiter. Vater und Opa waren mit dem Kleinlaster auf dem Rückweg aus dem verlassenen Anwesen im Dukagjin und wurden von Verbrechern gestoppt. Sie wurden regelrecht zusammengeschossen. Der Opa starb in den Armen des schwer verletzten Sohnes. Dieser wurde ins Krankenhaus gebracht. Sein Auge wurde einfach rausgeschossen, zwei Kugeln sind noch im Unterschenkel und eine steckt im Halsbereich. Die Familie braucht uns. Der Erstbesuch war hart und schwierig.
Die jüngste Tochter war letztes Jahr bei mir im Firmunterricht. Sie ist 15 Jahre alt, die Älteste ist 24 und dazwischen ist ein Sohn mit 21. Es war ein merkwürdiges Gefühl für mich, als ich ins Haus trat. Der Opa war gerade beerdigt, die Atmosphäre war gespenstisch, die Gesichter verschlossen und nur misstrauisches Schweigen war im Raum. Ich verlor irgendwie kurz die Sicherheit und überlegte, ob ich nicht einfach mit einem „Entschuldigung“ wieder gehen sollte. Aber ich spürte gleichzeitig, dass hinter der Schweigemauer ein grosses Bedürfnis nach Nähe und Sprechen war. So blieb ich und setzte mich einfach mal zu einer alten Frau aufs Sofa. Ich sagte, sie brauchen nicht reden, ich möchte einfach kurz mit ihnen sein, ihnen sagen, dass wir für alle Betroffenen beten und dann werde ich wieder gehen. Wie durch ein Wunder war das Eis plötzlich gebrochen. Die ältere Tochter fing an zu weinen. Und dann erzählten sie. Die Angst hatte nun einen Ausdruck gefunden, konnte ins Wort gefasst werden. Die grosse Angst um den Bruder steht immer noch im Vordergrund. Die Schwester hat Angst, dass er rächen wird oder dass die noch nicht gefassten Täter ihn auch töten. Das Motiv wissen die Angehörigen nicht. Die Sorge um den Vater ist enorm. Sie sind jetzt schon verschuldet, die Operation des Auges war teuer. Sie baten mich, nach Tirana zu fahren und den Vater zu besuchen, ihn zu ermutigen, mit ihm zu reden. Sie meinten, er wäre völlig traumatisiert und mitgenommen und habe Angst. Ich versprach, gleich am nächsten Tag hinzufahren. Und so fuhr ich nach Tirana. Nach längerem Suchen fand ich die Station. Aber ich brauchte einige Zeit, um ins Zimmer zu kommen. Der Gang in der Klinik war nämlich sozusagen mit „Krankenbetten im Gerangel um die Vorfahrt des jeweiligen Pflegers“ völlig blockiert. Dieselbe Methode wie hier im Strassenverkehr: der Stärkere hat Vorfahrt! In der Mitte des Korridors waren zwei Betten positioniert. Der Patient in einem Bett sollte dort vor allen Besuchern in das andere Bett umgelagert werden. Es wurde an ihm gezerrt, dann wurden ein paar andere Pflegekräfte gerufen zum Helfen. Inzwischen gab es „Gegenverkehr“ aus dem Gipsraum von der Seite. Eine alte Frau hatte gerade ihr gebrochenes Bein gegipst bekommen und wurde rausgeschoben und mit den anderen beiden Betten verkeilt. Dann kam noch ein Pfleger von der Stirnseite des Korridors aus dem Operationssaal mit einem Frischoperierten. Der war noch bewusstlos, aber das wohl eben operierte Bein hing noch zu einem Drittel aus dem Bett. Das Laken war voll Blut. Ich musste mich sehr zurücknehmen, um nicht einzugreifen. Ich drehte mich aber um, weil ich das nicht mitansehen konnte. Es gab Debatten um die Vorfahrt. Ich entschied, mich einfach durchzuwühlen, was mir auch gelang. Ich drückte mich an der Wand vorbei und hoffte einfach, dass mich niemand zerquetschte. Dann kam ich zum Verletzten. Er wirkte sehr traumatisiert, fing aber sofort zu weinen an. Der Augenverband war nicht mehr unbedingt das, was man unter sauberem Verband versteht. Er lupfte die unbezogene, verdreckte Bettdecke und zeigte mir das Bein mit den zwei Kugeln drin. Der Verband war durchgeblutet und verrupft und es schien mir, als wäre da einfach nur eine Knochenmatsche. Von der Kugel im Halsbereich zeugte ein riesengrosses Hämatom. Keiner wusste genau, warum diese Kugeln nicht entfernt wurden. Nun ist vor zwei Tagen eine Kugel im Bein entfernt worden, die zwei anderen sind noch im Körper. Der Patient ist schlecht beisammen. Wir versuchen, da zu sein für die Familie, uns zu kümmern und auch eine Tat der Rache zu verhindern. Und wieder einmal mehr sind wir bei der Blutrache gelandet. Und ich denke an unseren Granatapfelbaum im Kinderzentrum, der für Leben und das Zeichen der Liebe steht und zu einem grossen Strauch mit vielen Früchten geworden ist. Er ist aus einem grossen Stein als ganz kleines Pflänzchen gewachsen, hat den Stein gesprengt und ist nun fast das hoffnungsvolle Wahrzeichen im Kinderzentrum.
Und nun muss ich noch von unserem Projekt der häuslichen Pflege erzählen. Wir haben uns lange darauf vorbereitet. Die Anfragen nach Hilfe und häuslicher Pflege sind sehr häufig und massiv. Da wir alleine nicht mehr alles schaffen, haben wir uns schon lange entschlossen, das Projekt „häusliche Pflege“ zu wagen. Vier Gemeinden und unsere haben sich angeschlossen, eine kleine erste Sozialstation aufzubauen. Nun haben wir diese Woche mit der Ausbildung für Krankenpflegehilfe begonnen, nachdem wir die Anerkennung für diese Ausbildung von einer staatlichen Behörde auch bekommen haben. So konnten wir mit 14 zukünftigen PflegehelferInnen starten. Die ganze Woche waren sie im Unterricht. Es macht mir echt Freude, diese Erwachsenen so neugierig, motiviert und wissensdurstig zu erleben. Interaktives Lernen sind sie überhaupt nicht gewöhnt, aber es hat ihnen sehr viel Spass gemacht. Und so hoffen wir, dass sie dann bald zu den Pflegebedürftigen in die Familien losgeschickt werden können. Dieses Projekt ist mir ein Herzensanliegen. Und in all dem, was in der Welt geschieht, darf etwas gedeihen, etwas entstehen und der Hoffnung neue Nahrung gegeben werden. Der Granatapfel ist reif zur Ernte.
Wir wünschen Euch den Frieden, den Segen unseres Gottes und danken für alle Hilfe, alles Gebet und alles Wohlwollen.
Mit herzlichem Gruss
Sr. Christina und Sr. Michaela

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